Sanctuary Cities - Kommunalpolitische Rebellion in der Migrationspolitik

Von Nils Rasche

Einige Städte in den USA haben sich selbst zu sog. „Sanctuary Cities“ (dt. „Zufluchtsstädte) erklärt. Doch was bedeutet es, eine „Sanctuary City“ zu sein? Diese Städte, zu denen die große Mehrheit der amerikanischen Metropolen wie New York, Chicago oder Los Angeles zählen, haben es sich zum Ziel gesetzt, dass ihnen mögliche zu tun um Menschen, die sich ohne rechtlichen Aufenthaltstitel im Land aufhalten Sicherheit und Schutz vor Abschiebung zu bieten. Insgesamt gibt es in den USA schätzungsweise zwischen elf und zwölf Millionen solcher Menschen. Über eine Million von ihnen Leben nur in Los Angeles – somit verfügt statistisch jede*r zehnte Angelino nicht über einen gültigen Aufenthaltstitel. Es macht also einen riesigen Unterschied, wie eine solche Stadt mit diesen Menschen umgeht.

Das Thema Aufenthaltsrecht und Migrationspolitik wird in den USA, wie man es sinnvollerweise auch erwartet, einheitlich auf nationaler Ebene geregelt. Von daher stellt sich logischerweise die Frage, wie eine einzelne Stadt – als unterste Ebene im politischen System des Landes – hier überhaupt etwas ausrichten kann. Tatsächlich sind Sanctuary Cities mehr als etwa „sichere Häfen“, bei denen es im Wesentlichen um Solidaritätsbekundungen mit Geflüchteten geht. Die Mittel der Sanctuary Cities sind weitergehend und bieten einen messbaren Schutz für denen möglicherweise vulnerabelsten Teil der Bevölkerung.

 

So haben inzwischen ein Großteil der US-amerikanischen Großstädte und auch eine Handvoll Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, welche etwa den Zugang zu öffentlichen Diensten, offiziellen Ausweispapieren, staatlichen Schulen, Gesundheitsdienstleistungen und vielen anderen Angeboten unabhängig von dem Aufenthaltsstatus gewähren. Teilweise wird den Angestellten der Stadt auch komplett verboten, den Aufenthaltsstatus von Personen zu erfragen. Wie weit dieser Schutz tatsächlich geht, variiert – wie es in den USA immer ist – in der Praxis sehr stark. Das Fundament der politischen Entscheidung dieser Städte und Bundesstaaten, liegt aber nicht in dem, was sie tatsächlich tun, wie ich es oben beschrieben habe, sondern vor allem in dem, was sie nicht tun. Denn was sie alle gemeinsam haben, ist auch das, was sie im amerikanischen politischen Diskurs am kontroversesten macht: Sanctuary Cities weigern sich weitestgehend (teilweise sogar komplett), mit den nationalen Behörden zu kooperieren, wenn es um Fragen des Aufenthaltsrechts geht. Zwar sind solche rechtlichen Fragen, wie bereits erwähnt, einheitlich auf nationaler Ebene geregelt, die nationalen Behörden sind aber in der Umsetzung stark auf die Kooperation mit den lokalen Polizeibehörden der Städte angewiesen, da sie für sich alleine betrachtet nicht das dazu notwendige Personal haben.

Wie ein solches Kooperationsverbot wirkt zeigt sich ganz plastisch an folgender Situation: Wie geht etwa ein*e Polizist*in mit einer Person um, die sich ohne Aufenthaltstitel im Land aufhält, aber aus Gründen, die damit nichts zu tun haben, in Polizeigewahrsam ist? Die Polizei ist, wie bei jeder Festnahme, verpflichtet, die Daten der Person an eine zentrale Datenbank zu übermitteln, auf die auch die Einwanderungsbehörden Zugriff haben. Stellt sich heraus, dass es sich bei der festgenommenen Person also um eine Person handelt, die sich ohne Aufenthaltstitel im Land aufhält, wird die zuständige Behörde darum bitten, dass die lokale Polizei den Gewahrsam um weitere ein bis zwei Tage verlängert, damit eine Abschiebung in die Wege geleitet werden kann.

Dabei handelt es sich aber eben nur um eine Bitte. Es besteht keine Pflicht für eine Stadt, dieser Bitte auch Folge zu leisten. Den Städten und Bundesstaaten wird also an dieser Stelle ein Recht eingeräumt, das in unserer Rechtsordnung undenkbar wäre: sie dürfen nicht nur darüber entscheiden, wie sie das nationale Recht umsetzen wollen (so wie es die deutschen Bundesländer im Regelfall dürfen), sondern auch, ob sie es überhaupt umsetzen wollen. Dieses Recht ergibt sich aus dem zehnten Zusatzartikel und ist zudem durch ständige Rechtsprechung des Supreme Court anerkannt.

Oder anders: wenn man in Washington auf nationales Ebene etwas regeln möchte, dann hat man sich auch selbst um die Umsetzung zu kümmern. Die Bundesstaaten und Städte können nicht zur Mitwirkung gezwungen werden, sondern höchstens freiwillig mitwirken. In der Praxis sieht das übrigens so aus, dass man den Bundesstaaten als „Belohnung“ für ihre Kooperation finanzielle Anreize setzt oder ihnen umgekehrt als „Strafe“ Gelder streicht. Jedoch darf es auch hier nicht zu einem indirekten de facto Zwang kommen.

 

Um zurück zum Beispiel der Polizeikontrolle zu kommen: eine Stadt hat also zwei Optionen, wenn sie eine solche Bitte erhält. Sie kann die Person weiter in Gewahrsam halten, bis sie von den Einwanderungsbehörden abgeholt und abgeschoben wird oder sie kann anordnen, dass die Person möglichst schnell wieder aus dem Gewahrsam entlassen wird, um einer Abschiebung zuvorzukommen. Insbesondere am konservativen Ende des politischen Spektrums betrachtet man solche Zustände als Skandal: Sanctuary Cities seien Orte der Anarchie, an denen geltendes Recht ignoriert wird.

 

Etwas ironisch übrigens, wenn man weiß, dass die Bundesstaaten und Städte diese Rechte vor allem aufgrund einer Rechtsprechung haben, bei denen sich republikanisch regierte Bundesstaaten querstellen wollten, als es darum ging, strengere Waffengesetze oder Teile der Gesundheitsreform von Obama umzusetzen. Das Urteil des konservativen Chief Justice Roberts zur Gesundheitsreform warf dem Gesetzgeber damals vor, den Bundesstaaten ihre Souveränität zu nehmen, indem er ihnen eine „Schusswaffe an den Kopf“ halte.

 

Eine der ersten Amtshandlungen des wenige Tage zuvor eingeschworenen Präsidenten Trump war es, am 25. Januar 2017 ein Dekret zu unterschreiben, dass alle Städte, welche bestimmten Pflichten in Bezug auf die Zusammenarbeit mit den Einwanderungsbehörden nicht nachkamen, sämtliche finanziellen Mittel aus dem Bundeshaushalt verlieren sollten. Ein Bundesgericht in Kalifornien kassierte dieses Dekret kurze Zeit später mit der Begründung, dass das Weiße Haus seine Kompetenz überschritten habe und den Bundesstaaten und Städten dadurch „eine Schusswaffe an den Kopf“ halte. Woher diese lebhafte Metapher wohl stammt?


Um aber zurück zum Wesentlichen zu kommen: bei all diesen juristisch-technischen Fragen darf man nicht vergessen, dass es hier am
Ende um echte Menschen geht. Es sind Menschen in besonders prekären und vulnerablen Lebenssituationen. Wie sich eine Stadt wie Los Angeles oder der ganze Bundesstaat Kalifornien hier verhält, macht einen riesigen materiellen Unterschied für Millionen von Menschen, die selbst, mangels Wahlrecht, nicht einmal ein Mitspracherecht in dieser Entscheidung haben. Es geht hier nicht nur darum, dass man dieses oder jenes Gesetz aus politischen Gründen nicht mitträgt, sondern darum, was es bedeutet, eine große, vielfältige Stadt zu sein, welche Rolle die Politik vor Ort hat und inwiefern man sich an nationalen Aufgaben beteiligen muss, die nicht nur nichts mit den eigenen Zuständigkeiten zu tun haben, sondern auch die Lösung kommunalpolitischer Probleme massiv behindern. So sieht es z.B. der Chef der Polizei in Los Angeles, der sagt, dass die Übertragung von Aufgaben im Migrationsrecht zwangsläufig die Bekämpfung und Aufklärung von Verbrechen massiv erschweren würden.

Dass die Städte und die Zivilgesellschaft vor Ort hier mit einer Notlösung die Konsequenzen einer gescheiterten nationalen Migrationspolitik ausbaden und abzumildern versuchen, versteht sich von selbst. Kommunale Entscheidungsträger*innen setzen hier das einzige (und somit beste) Mittel ein, das ihnen in dieser Situation zur Verfügung steht.

 

Davon abgesehen, dass dies natürlich ohne Wenn und Aber das menschlich Richtige ist, lohnt es sich zum Schluss auch nochmal das „juristische“ (und konservative) Argument gegen sanctuary cities aufzugreifen: Man hört in dem Zusammenhang oft, dass es hier schlicht um das „rule of law“ geht und, dass einzelne Städte und Bundesstaaten doch nicht einfach entscheiden können, bestimmte Gesetze einfach zu ignorieren. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, bezeichnete sie gar als „definition of anarchy“.

 

Zum einen möchte ich klarstellen, dass auch die „unkooperativste“ Stadt eine Abschiebung innerhalb ihrer Grenzen nicht verhindern kann, wenn die nationalen Einwanderungsbehörden diese einfach selbst durchführen – sie kann immer nur ihre Zusammenarbeit verweigern. Des Weiteren ist der Grundsatz, dass die Städte und Einzelstaaten über ihre Kooperation mit der Bundesebene in vielen Gebieten selbst entscheiden dürfen lange in ständiger Rechtsprechung anerkannt und fester Bestandteil des Verfassungsgefüges – wer hier also einen eklatanten Rechtsbruch sieht, hat den amerikanischen Föderalismus schlicht nicht verstanden. Aber darum geht es nicht: der Rechtsstaat wird nicht daran kaputtgehen, dass man den auf dem Papier illegalen Aufenthalt einer Gruppe von Menschen, die es in allen Lebensbereichen ohnehin schon unglaublich schwer hat, schützt, und diesen Menschen etwas mehr Sicherheit gibt.

 

Aber hingegen, wenn in einer Stadt von zehn Millionen Menschen zehn Prozent der Bevölkerung den Kontakt mit öffentlichen Einrichtungen meidet, weil jeder Kontakt eine Abschiebung in ein möglicherweise für sie inzwischen komplett fremdes Land bedeuten könnte - wenn sich solche Menschen aus dieser Angst heraus nicht dabei sicher fühlen, Hilfe zu holen, wenn sie sie brauchen (und dadurch selbst zu einem leichten Ziel von schwerer Gewalt werden), ihre Kinder nicht in die Schule schicken, im Notfall nicht ins Krankenhaus gehen, nicht die Feuerwehr rufen, nicht bei der Aufklärung von Verbrechen mitwirken, und stattdessen ihr Leben „im Dunkeln“ abseits dem Rest der Gesellschaft verbringen, dann haben wir ein echtes Problem für den Rechtsstaat.