(K)Ein Recht auf Abtreibung?

von Luisa KRaf und Sylvia Wu

Obwohl mehrheitlich Frauen von Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch betroffen sind, haben wir uns bewusst dafür entschieden, dies nicht mit dem weiblichen Geschlecht zu verbinden, da nicht alle Frauen und umgekehrt verschiedene Menschen mit Gebärmutter, darunter auch trans*Menschen, schwanger werden können. Daher ist in unserem Artikel immer die Rede von „schwangeren Personen/ Menschen“.

I. Diskrepanz zwischen Existenz und Anerkennung durch die Rechtsprechung
Das Recht auf Abtreibung – gibt es das in Deutschland? Oder präziser: wird ein solches Recht von der Rechtsprechung anerkannt? Diese Differenzierung ist wichtig, wenn man beispielsweise auf die USA blickt, wo am 24. Juni 2022 der Supreme Court als höchstes Gericht im Land die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht Roe v. Wade (Roe gegen Wade) aufgehoben und sich damit gegen ein verfassungsrechtlich verankertes Recht auf Abtreibung ausgesprochen hat. Im Grunde genommen ist diese Gerichtsentscheidung nichts anderes als eine neue fragwürdige und politische Interpretation der US-amerikanischen Verfassung. Bis zu dieser Entscheidung haben die Richter*innen in Roe v. Wade fast 50 Jahre lang ein Recht auf Abtreibung in der US-Verfassung verankert gesehen. Das zeigt, dass das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch auf die Verfassung zurückgeführt werden kann, nun aber nicht mehr von der Rechtsprechung anerkannt wird. Die praktische Konsequenz des neuen Urteils ist gravierend, denn es wird den Gesetzgeber*innen in den einzelnen Bundestaaten nun selbst überlassen, ob und wie sie schwangeren Menschen ein Recht auf Abtreibung zugestehen. In den schlimmsten Fällen wird eine Abtreibung komplett verboten – alles (scheinbar) im Einklang mit der Verfassung.

II. Abtreibungsstrafrecht?
Wie ist also die Rechtslage in Deutschland? Schaut man in unsere Gesetze, insbesondere in die Verfassung/das Grundgesetz, so sucht man vergeblich – nirgendwo wird explizit ein Recht auf Abtreibung normiert. Stattdessen wird der Schwangerschaftsabbruch in § 218 des Strafgesetzbuchs (StGB) kriminalisiert. Richtig – für eine Abtreibung macht man sich in Deutschland potenziell strafbar. Es werden allerdings in § 218a StGB Ausnahmen normiert, das heißt, es werden bestimmte Voraussetzungen genannt, unter denen ein Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt. Wie großzügig, dass man unter bestimmten Umständen eine Abtreibung vornehmen darf! Je nachdem welche Ausnahme zutrifft, ist ein Schwangerschaftsabbruch dann „rechtswidrig, aber straffrei“ oder „nicht rechtswidrig“ und damit auf jeden Fall straffrei.

Diese Unterscheidung ist relevant, da nur die Kosten von „nicht rechtswidrigen“ Schwangerschaftsabbrüchen von den Krankenkassen übernommen werden (§ 24b SGB V). Darunter fallen nur die Fälle, bei denen  eine Schwangerschaft das Leben, die körperliche oder seelische Gesundheit schwerwiegend beeinträchtigt (medizinische Indikation) oder wenn die Schwangerschaft infolge einer rechtswidrigen Tat nach den §§ 176 – 178 StGB, also infolge einer Vergewaltigung erfolgte (kriminologische Indikation).

Krankenkassen übernehmen nicht die Kosten, wenn ein Schwangerschaftsabbruch „rechtswidrig, aber straffrei“ ist. Das ist der Fall, wenn weder eine medizinische noch eine kriminologische Indikation (s.o.) vorliegt, die schwangere Person allerdings aus eigenem Willen nach einer Pflichtberatung innerhalb der ersten 12 Wochen eine Abtreibung ärztlich vornehmen lässt. Der selbstbestimmte Schwangerschaftsabbruch ist damit nicht nur rechtswidrig, sondern auch teuer (ca. 350 – 600 Euro, bei stationärer Behandlung mehr).

III. Der Bundestag vs. das Bundesverfassungsgericht
Bemerkenswert ist, dass das Abtreibungsstrafrecht in seiner jetzigen Form nicht das Ergebnis eines parlamentarischen Prozesses ist, sondern hauptsächlich den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) folgen musste. In zwei Entscheidungen bremste das BVerfG jeweils Liberalisierungsversuche des deutschen Bundestags – dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber.

Den ersten Liberalisierungsversuch unternahm der Bundestag 1974. Zum damaligen Zeitpunkt stand Abtreibung ausnahmslos unter Strafe. Der Bundestag wollte daher mithilfe eines Gesetzes eine sogenannte Fristenlösung einführen, bei der ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen straflos bleiben sollte. Dies war vor allem eine Reaktion auf den damals stattfindenden gesellschaftlichen Diskurs, bei dem die Mehrheit in der Öffentlichkeit ein progressiveres Abtreibungsrecht verlangte. Im Bundestag fand sich schließlich auch die für eine Gesetzesverabschiedung erforderliche Mehrheit.

Dieses Gesetz erklärte das BVerfG im Jahre 1975 für verfassungswidrig mit der Begründung, es sei unvereinbar mit den Grundrechten [BVerfGE 39, 1]. Diese sind die verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte von Bürger*innen gegenüber dem Staat. Gesetze, die gegen Grundrechte verstoßen, sind automatisch verfassungswidrig. Grundrechte sichern dabei auch einen rechtlichen Mindeststandard der Rechtsordnung, der nicht unterschritten werden darf. Wird dieser unterschritten, so werden sogenannte staatliche Schutzpflichten ausgelöst, bei denen der Staat zum Schutz der Grundrechte tätig werden muss.

Mit einer solchen Schutzpflicht argumentierte das BVerfG in dieser Entscheidung zum ersten Mal, wobei die Herleitung bis heute umstritten ist. Das ungeborene Leben wird als Teil der objektiven verfassungsrechtlichen Werteordnung konstruiert, vor welche der Staat sich schützend stellen müsse. Aus Gründen der Gewaltenteilung gilt bei Schutzpflichten grundsätzlich ein sogenanntes Untermaßverbot. Das bedeutet, der Staat wird zwar gezwungen zu handeln, aber es ist diesem selbst überlassen wie, er darf nur ein bestimmtes Untermaß nicht unterschreiten. Das BVerfG verpflichtete hier jedoch den Staat, seiner Schutzpflicht mithilfe des Strafrechts nachzukommen. Der Gesetzgeber durfte nur Ausnahmen vorsehen, die einen Schwangerschaftsabbruch erlauben – es folgte dann § 218a StGB in seiner alten Fassung (a.F.), die sogenannte “Indikationslösung”, bei welcher ein Schwangerschaftsabbruch bei medizinisch-sozialer, kriminologischer (s.o.), embryopathischer oder Notlagen-Indikation möglich war. Ein selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch ohne Indikation war damit nicht möglich. Hier hat sich das BVerfG also zum „Ober-Gesetzgeber“ aufgeschwungen. So viel zur Gewaltenteilung.

Nach der Wiedervereinigung folgte dann ein erneuter Liberalisierungsversuch. 1992 wollte der Bundestag § 218a StGB a.F. reformieren, und zwar mit einer kombinierten Fristen- und Beratungslösung, die einen Schwangerschaftsabbruch ohne Indikation in den ersten 12 Wochen mit einer Pflichtberatung als „nicht rechtswidrig“ anerkennt. Dies sollte einen „rechtmäßigen“ selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch ermöglichen.
Allerdings erklärte auch hier das BVerfG den neugefassten § 218a StGB für unvereinbar mit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, genau weil dieser den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen würde [BVerfGE 88, 203]. Laut Gericht käme der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht nur nach, wenn er Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verbieten würde und der schwangeren Person die Rechtspflicht auferlegt, ein Kind auszutragen.
In der Argumentation werden dabei die schwangere Person sowie das ungeborene Leben als zwei getrennte Einheiten betrachtet: man müsse den Fötus vor der schwangeren Person schützen. Während der Schwangerschaft sind diese jedoch eine unzertrennliche Einheit. Warum ist die körperliche Unversehrtheit des Fötus wichtiger als die Unversehrtheit der schwangeren Person? Umgekehrt findet keine Rücksicht, wie belastend eine Schwangerschaft
für die betroffene Person sein kann. Richtiger wäre es, Fötus und schwangere Person gemeinsam zu schützen. Mit diesem Urteil scheiterte also erneut ein Liberalisierungsversuch. Als Reaktion auf das Urteil resultierte dann § 218a StGB in seiner heutigen Fassung (s.o.).

IV. Die Grundrechte der schwangeren Person
Das BVerfG stellt also kein Recht auf Abtreibung fest, sondern sieht den Staat als verpflichtet an, Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich als Unrecht anzusehen. Das BVerfG gewährt also dem Schutz des ungeborenen Lebens Vorzug. Ausdrücklich im Grundgesetz festgeschrieben ist das Recht auf Abtreibung ebenfalls nicht. Geht es um den Schutz schwangerer Personen vor restriktiven Abtreibungsgesetzen, so muss daher auf die übrigen Grundrechte des Grundgesetzes zurückgegriffen werden.

Art. 1 Abs. 1 GG
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Art. 2 Abs. 1 GG
"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."


Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
"Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit."

Art. 4 Abs. 1 GG
"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."


Doch auf welche Grundrechtspositionen können sich schwangere Personen im Falle einer Gebärpflicht berufen? Ergibt sich aus dem Grundgesetz doch ein Recht auf Abtreibung? Infrage kommen verschiedene Grundrechte:

1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergibt sich aus der Verbindung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und schützt die freie Entfaltung derPersönlichkeit sowie die Selbstbestimmung einer Person, insbesondere in sehr persönlichen Lebensbereichen. Ob man ein Kind gebären möchte oder nicht, ist eine Frage der Lebensgestaltung, die in höchstem Maße privat und persönlich ist. Sie ist der sogenannten „Intimsphäre“ eines Menschen zuzuordnen, aus der sich der Staat strikt herauszuhalten hat. Legt der Staat einer schwangeren Person die Verpflichtung auf, die Schwangerschaft auszutragen, so nimmt er ihr die Entscheidungsverantwortung in einem Teil ihrer Intimsphäre. Er greift dadurch in die Intimsphäre der betroffenen Person ein. Ihr wird die Selbstbestimmung über ihre Fortpflanzung vollständig entzogen. Diese Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch eine „Gebärpflicht“ wurde vom BVerfG erkannt und ist im Übrigen auch nicht ernsthaft umstritten.

 

2. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Ein weiteres wichtiges Grundrecht im Kontext des Rechts auf Abtreibung ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dabei meint körperliche Unversehrtheit sowohl die physische als auch die psychische Unversehrtheit. Damit ist auch die Freiheit von Schmerzen inbegriffen. Das BVerfG erkennt in beiden Entscheidungenzum Schwangerschaftsabbruch an, dass die Fortsetzung einer Schwangerschaft unzumutbar ist, „wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden“ [BVerfGE 39, 1 (1)]. Für alle übrigen Fälle einer Schwangerschaft, also wenn keine solch besonders starke Gefährdung besteht, geht das BVerfG nicht weiter auf eine Betroffenheit des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein.

Dabei ist eine Schwangerschaft an sich schon ein Risiko für Leben und Gesundheit der schwangeren Person. Eine schwangere Person kann infolge der Schwangerschaft sterben, auch ohne dass diese davor als besonders risikobehaftet galt. Unerwartete Komplikationen können genauso zu schweren, möglicherweise dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen führen. Wird der schwangeren Person eine Abtreibung verwehrt, so wird sie gezwungen, diese durch die Schwangerschaft bedingten Risiken auf sich zu nehmen. Des Weiteren beeinträchtigt selbst eine Schwangerschaft ohne jegliche Komplikationen den Körper der schwangeren Person. Zwar ist eine Schwangerschaft keine Krankheit im eigentlichen Sinne, dennoch gehen mit ihr physische Beschwerden sowie Schmerzen einher. Dieser Zustand besteht über neun Monate hinweg und endet mit einer in jedem Falle schmerzhaften (und komplikationsanfälligen) Geburt. Davon abgesehen kann der Zwang, eine Schwangerschaft gegen den eigenen Willen aufrecht zu erhalten, die psychische Gesundheit einer Person massiv beeinträchtigen. Legt man schwangeren Personen eine Austragungspflicht auf, so wird deren Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit somit auf verschiedene Art beeinträchtigt. Die Bedeutung dieses Grundrechts auf Seiten der schwangeren Person hat das BVerfG in seinen Entscheidungen verkannt.

 

3. Die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG
Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes legt den Schutz der Menschenwürde fest und stellt den höchsten Wert unserer Verfassung dar. Aufgrund der besonderen Bedeutung darf der Staat nicht in die Menschenwürde eingreifen, anders als bei anderen Grundrechten. Ein Eingriff in die Menschenwürde stellt daher immer zugleich eine Verletzung der
Menschenwürde dar. Eine Abwägung der Menschenwürde gegen andere Grundrechte ist nicht möglich. Nach ständigem Verständnis in Rechtsprechung und Literatur liegt eine Verletzung der Menschenwürde vor, wenn einem Menschen das Menschsein abgesprochen wird. Oder anders: wenn der Staat ein Subjekt zum bloßen Objekt degradiert. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein Mensch durch den Staat nur als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes benutzt wird. Wird eine schwangere Person dazu verpflichtet, ihren Körper der Austragung eines werdenden Lebens hinzugeben, so wird die Person auf ihre Gebärmutter, auf ihre Fähigkeit zur Austragung dieses Lebens reduziert. Die schwangere Person wird als Mensch, als Individuum ausgeblendet, für das Recht kommt es nur darauf an, dass sich ein Fötus in der Gebärmutter entwickelt. Der Mensch stellt nur noch Umgebung dessen dar, was der Staat als unbedingt schützenswert eingestuft hat. Genau hier wird der schwangeren Person ihre Subjektivität genommen. Sie ist nicht mehr als ein bloßes Mittel des Staates, ein Objekt, um dem Fötus ein Leben zu ermöglichen.

Dabei ist zudem zu beachten, dass bereits die Grundannahme, die schwangere Person könne eine Bedrohung für den Fötus darstellen, die Würde der schwangeren Person verletzt. Denn das Entwickeln von menschlichem Leben wird isoliert von der schwangeren Person betrachtet, die schwangere Person stehe als „Dritte“ dem Fötus gegenüber. Dabei ist die Entwicklung menschlichen Lebens doch gerade eine Leistung des Körpers der schwangeren Person.

Die dargestellte Betroffenheit der Menschenwürde der schwangeren Person wird vom BVerfG nicht ausgeführt. Es wird lediglich auf den „Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde“ hingewiesen [BVerfGE 88, 203 (203)]. Im Gegensatz dazu wird die Menschenwürde des ungeborenen Lebens in beiden Urteilen mehrmals angeführt und dargelegt. Dadurch wird vom BVerfG der Eindruck erweckt, die Menschenwürde sei vor allem in Bezug auf das ungeborene Leben relevant. Dies ist jedoch nicht der Fall: spricht man dem ungeborenen Leben Menschenwürde zu, so kollidiert diese mit der Menschenwürde der schwangeren Person. Ein Vorrang des Lebensrechtes des Fötus vor den Rechten der schwangeren Person kann daher nicht aus der Menschenwürde abgeleitet werden.

 

4. Die Gewissensentscheidungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG
Die Freiheit des Gewissens stellt eines der wichtigen Freiheitsrechte des GG dar und ist eng mit der Identität, der Selbstbestimmung und der Würde eines Menschen verbunden. Geschützt wird die Freiheit eines Menschen, Entscheidungen nach seinem persönlichen Gewissen zu treffen, also nach eigenen sittlichen Maßstäben, auch wenn diese von denen der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Die entscheidende Person muss die eigenen sittlichen Maßstäbe als so verbindlich ansehen, dass sie eine Entscheidung, die diesen Maßstäben widerspricht, nicht ohne Gewissensnot treffen kann. Liegt diese Voraussetzung vor, so ist eine Entscheidung von der Gewissensfreiheit geschützt, unabhängig davon, ob die Gewissensgründe objektiv nachvollziehbar sind oder nicht. Die Entscheidung einer schwangeren Person für oder gegen die Austragung des Fötus ist eine moralische Entscheidung, die sich immer an den sittlichen Maßstäben der betroffenen Person ausrichtet. Gewissensnot kann in einer Person nicht nur dann hervorgerufen werden, wenn sie zur Abtreibung gedrängt wird, sondern auch wenn sie zur Austragung gedrängt wird. Die Entscheidung, ein Kind auf die Welt zu bringen, betrifft das Leben der schwangeren Person dauerhaft, intensiv und auf so vielfältige Weise, dass nur sie diese Entscheidung treffen kann. Aus dieser höchstpersönlichen Gewissensentscheidung hat der Staat sich herauszuhalten. Die freie Gewissensentscheidung ist dabei nicht nur bei Auferlegung einer Gebärpflicht betroffen. Schon die Pflicht zu einer Beratung, die die Person zur Austragung des Fötus bewegen soll, greift in die Gewissensfreiheit der schwangeren Person ein.

Während das BVerfG in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch immerhin anmerkt, dass „die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann“ [BVerfGE 39, 1 (48)], stellt es im zweiten Urteil fest, dass sich die schwangere Person nicht auf die Gewissensfreiheit berufen kann. Das BVerfG schließt also das Grundrecht der Gewissensfreiheit vollständig aus seinen verfassungsrechtlichen Beurteilungen aus und dies ohne jegliche Begründung.

 

5. Weitere relevante Grundrechte

Die eben ausgeführten Grundrechte sind die gewichtigsten, die schwangere Personen davor schützen, zu einer Austragung des ungeborenen Lebens gezwungen zu werden. Daneben gibt es noch weitere Grundrechte, die in dieser Diskussion angeführt werden

können, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll. Dazu gehört das Recht auf selbstbestimmte Familienplanung, welches sich Art. 6 GG entnehmen lässt, sowie der Grundsatz der Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. Auch diese Grundrechte wurden vom BVerfG in seinen Entscheidungen ignoriert.

 

 

 

6. Fazit: Die Grundrechte der schwangeren Person in den Urteilen des BVerfG

Das BVerfG hat in beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch Grundrechte der schwangeren Person nicht angesprochen, ohne Begründung abgelehnt oder in ihrer Bedeutung verkannt. Möchte jemand eine Abtreibung vornehmen lassen, so bedeutet dies eine Kollision von Grundrechtspositionen. Die Rechte der schwangeren Person stehen in einem Spannungsverhältnis mit dem Schutz des

ungeborenen Lebens. Um zu entscheiden, welche Grundrechte überwiegen, müssen die einschlägigen Grundrechtspositionen zuerst ermittelt und anschließend abgewogen werden. Während das BVerfG in den genannten Urteilen die Rechte des ungeborenen Lebens ausführlich erörtert, findet keine vollständige Auseinandersetzung mit den Rechten der schwangeren Person statt. Die Rechtspositionen von schwangeren Personen müssen in der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Abtreibungen jedoch genauso beleuchtet und berücksichtigt werden wie diejenigen des ungeborenen Lebens – ansonsten ist eine umfassende Abwägung kollidierender Grundrechtspositionen von vornherein nicht möglich. Zu hoffen ist, dass das BVerfG in zukünftigen Entscheidungen zum Abtreibungsrecht die Rechtspositionen der schwangeren Person vollständig erfasst. Zudem sollte die aktuelle Kriminalisierung von Abtreibungen verfassungsrechtlich kritisch diskutiert werden. Denn auch wenn die aktuelle Rechtslage stark durch die Rechtsprechung des BVerfG selbst bestimmt wurde, muss sie daher noch lange nicht verfassungsrechtlich unbedenklich sein.

V. Fazit zum Recht auf Abtreibung
Aus den bestehenden grundrechtlichen Gewährleistungen ergibt sich ein Schutz von schwangeren Personen davor, dass der Staat sie zur Austragung der Schwangerschaft zwingt. Oder anders ausgedrückt: Menschen haben unter dem Grundgesetz ein Recht auf Abtreibung. Dieses besteht auch ohne explizite Festschreibung im Grundgesetz. Dennoch wäre eine Diskussion um die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in den Grundrechtskatalog wünschenswert. Denn effektiv schützen können Grundrechte nur dann, wenn sie von der Rechtsprechung auch beachtet werden. Eine Missachtung der Rechte von schwangeren Menschen würde bei einer ausdrücklichen Aufnahme reproduktiver Rechte in das Grundgesetz sicherlich schwerer fallen. Ein Verlust des verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung, wie er nun in den USA geschehen ist, würde dann zumindest nicht durch einen schlichten Wandel der Rechtsprechungspraxis möglich sein. Das Entsetzen über die rückschrittliche Rechtsprechung des Supreme Courts in den USA ist absolut gerechtfertigt. Dennoch muss man sich vor Augen führen, dass die vorhandene Rechtsprechung des BVerfG zum Abtreibungsrecht nicht progressiv ist – im Gegenteil! Ein von der Rechtsprechung ausdrücklich anerkanntes Recht auf Abtreibung, so wie es durch Roe v. Wade fast 50 Jahre lang in den USA bestand, gab es in der Bundesrepublik noch nie.

 

Weiterführende Literatur:

  • https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ag-giessen-werbungaerztin-schwangerschaftsabbruch-kriminalisiert-toetungsdeliktrechtslage-deutschland/2/
  • https://verfassungsblog.de/kompromiss-auf-zeit/
  • Dagmar Oberlies,’§ 218 Ein Grenzfall des Rechts?’ Kritische Justiz
  • 25.2 (1992), pp. 199-213
  • Sabine Berghahn,’Der Geist des Absoluten in Karlsruhe und die
  • Chancen der Demokratie in der Abtreibungsfrage, Teil I’ Leviathan 26.2 (1998), pp. 253-269
  • Monika Frommel,’Grundrecht auf Abtreibung?’Neue
  • Kriminalpolitik 3.3 (1991), pp. 28-31
  • Anna Hochreuter,’Gebärzwang und tote Frau als Brüterin - patriarchale Ethik? Staatsrechtliche Überlegungen zum § 218 StGB und zum Fall der hirntoten Marion P. in Erlangen’ Kritische Justiz 27.1 (1994), pp. 67-76
  • Margot v. Renesse,’§§218f. StGB - eine unvollkommene Antwort auf ein unlösbares Problem: Rechtsdogmatische Überlegungen zur Reform des Schwangerschaftsabbruchsrechts’ Zeitschrift für Rechtspolitik 24 (1991), pp. 321-325
  • Ute Sackofsky,’Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz’
  • Kritische Justiz 36.3 (2003), pp. 274-292