"Hier im Kiez ist konzentriert, was gesamtgesellschaftlich abläuft."

Interview mit Wrangelkiez United

geführt von Luisa Kraft und Sylvia Wu

Wrangelkiez United ist eine aktivistische Gruppe im Berliner Stadtteil Wrangelkiez, die sich gegen racial profiling und rassistische Polizeigewalt einsetzt.

Jura[sic!]: Wer seid ihr und warum habt ihr euch gegründet? Könnt ihr uns ein wenig über eure Tätigkeit erzählen?
Wrangelkiez United: Wir haben uns tatsächlich am Anfang der Pandemie gegründet und sind aus einer Telegram-Nachbarschaftshilfegruppe entstanden. Dort haben wir uns dann über die zunehmenden Polizeikontrollen ausgetauscht und haben dann mit unseren klassischen Stop-Racial-Profiling Postern angefangen. Dazu haben wir sehr viel in Polizeikontrollen interveniert und haben uns selbst dazu weitergebildet. Dann haben wir selbst Workshops gemacht für uns und haben uns da sozusagen professionalisiert. Dann haben wir auch angefangen, Flyer zu machen darüber, wie man sich in Polizeikontrollen verhalten kann. Aber eben auch niedrigschwellige Flyer für Betroffene, die über deren Rechte aufklären. Dann haben  wir auch Öffentlichkeitsarbeit gemacht in der Nachbarschaft, indem wir in Läden gegangen sind und gefragt haben, ob sie unsere Flyer oder Plakate auslegen wollen. Dabei kommen wir mit Leuten ins Gespräch, wobei das oft sehr viel Arbeit ist, die Leute zu einem kritischen Denken gegenüber der Polizei anzuregen, weil der Glaube an „die Polizei ist gut und macht alles richtig“ oft sehr tief und sehr weit verbreitet ist. Wir haben auch selbst Workshops gegeben und geben auch immer noch Workshops. Dann sind auch Zeitungsanfragen, Interviews, Podcasts, Kundgebungen und Demos  dabei. Zuletzt vermitteln wir auch manchmal Rechtsanwält*innen an Betroffene. Wir haben auch einen Film gemacht mit Interviews von Betroffenen.

 

Dazu, wer wir sind: Wir sind alles Anwohner*innen hier aus dem Kiez. Das hatte ich bisher noch nie in meiner aktivistischen Laufbahn und es ist für die aktivistische Arbeit produktiv, weil man sich auch spontan einfach treffen kann.

KritJur: Wie können wir uns euer Kiez vorstellen?
Wrangelkiez United: Wir sind ein Kreuzberger Kiez und einer der sogenannten „Problemkieze“. Er war früher direkt an der Mauer und daher eher unbeliebt und deswegen ein Kiez, der vor allem durch ein migrantisches Arbeiter*innenmilieu gekennzeichnet war. Nach dem Mauerfall wurde der Kiez dann auf einmal sehr attraktiv, wodurch es natürlich zu Gentrifizierungsprozessen kam. Trotzdem ist er immer noch ein Kiez, der von sehr vielen unterschiedlichen Gruppen bewohnt und genutzt wird. Er hat daher auch ein sehr liberales und tolerantes Klima. Hier sind auch sehr viele Clubs und Partyleute, die sich im  Görlitzer Park treffen. Und es gibt hier auch einfach Drogen und die gab es auch schon immer‘. Es gibt auch Drogenuser*innen, die oft nicht in einem besonders guten Zustand sind, was sich in der Pandemie auch verstärkt hat. Bevor ich hier hergezogen bin, habe ich immer über die Gewalt hier gelesen und dass das alles so heftig sei. Das stimmte aber gar nicht mit meiner Wahrnehmung, die ich hier jetzt als Anwohnerin
habe, überein. Ja, es gibt Gewalt und andere Probleme, aber in dem Ausmaß, wie bestimmte Zeitungen es darstellen, kommt das nicht. Aber das ist  ein ganz wichtiger Punkt: diese mediale Darstellung. Es ist auch heftig welche ganz alten, rassistischen Narrative da ausgepackt werden.

KritJur: Wie transparent ist die Festlegung kriminalitätsbelasteter Orte und wo befinden diese sich üblicherweise?

[Redaktionelle Anmerkung: Kriminalitätsbelastete Orte (kbOs) sind Gebiete, in denen die Polizei ohne konkreten Verdacht Menschen kontrollieren und durchsuchen darf. Als Legitimation dafür wird angegeben, dass in diesen Gebieten vergleichsweise mehr Straftaten begangen werde.]

Wrangelkiez United: Also transparent ist die Festlegung dieser Orte gar nicht. Früher wusste niemand, wo diese kriminalitätsbelasteten Orte überhaupt waren. Dann musste es irgendwann veröffentlicht werden. Es waren damals etwa zwanzig kriminalitätsbelastete Orte, jetzt sind es aktuell sieben. Zur Transparenz: die kbOs werden relativ undurchsichtig festgelegt. Die Kriterien: eines davon ist die PKS, die Polizeiliche Kriminalstatistik, aber daneben sind es auch irgendwelche internen Protokolle. In Berlin hängen diese kbOs fast alle aneinander. Sie gehen durch den „Möchtegern-Gentrifizierungsbogen“, da würde sich die Stadt gerne ein nices Mitte-Berlin hinziehen. Aber auch die migrantischen und politisch aktiven Kieze.
Kriterien sind dabei hier vor allem schwere Körperverletzung, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen. Letzteres ist bei uns eben besonders. Was ich erst relativ spät herausgefunden habe ist, dass diese kbOs eingeführt wurden, kurz nachdem das Schengen-Abkommen in Kraft getreten ist. Es wurden also die Grenzkontrollen in das Land, in die Städte, in die Kieze verlegt. Es geht also um die Verdrängung von bestimmten Personengruppen. Es geht auch um Abschiebungen.
Es ist total erstaunlich und erschreckend, wie wenig selbst wir als Aktivist*innen, die viel mit Polizeikritik zu tun haben, über diese kbOs wussten und wie schwer das Wissen zugänglich ist. Das mit dem Schengen-Abkommen, das müssten eigentlich alle wissen, was es da für einen Zusammenhang gibt. Es ist ein langer Prozess sich da dieses Wissen anzueignen, was eigentlich allen Bürger*innen zusteht, um sich ein Urteil zu bilden.

KritJur: Haltet ihr diese kriminalitätsbelasteten Orte für rechtlich zulässig?
Wrangelkiez United: Es gibt Kritik auf verschiedenen rechtlichen Grundlagen, z. B. dem Antidiskriminierungsgesetz. Gerade hier in Berlin will die CDU dieses aber abschaffen. Ich weiß, dass es schwierig ist, nachzuweisen, dass kbOs gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstoßen. Was ich  interessant finde ist, dass es zwanzig kriminalitätsbelastete Orte gab als diese veröffentlicht wurden und es jetzt nur noch sieben gibt. Also scheint Transparenz irgendwie auch dazu zu führen, dass vieles vielleicht nicht mehr so haltbar ist. Ein ganz wichtiger Punkt bei den kbOs ist, dass anlasslos kontrolliert werden kann. Das war immer ein Punkt, gegen den wir uns sehr stark gemacht haben.

KritJur: Inwieweit hat sich eurer Meinung nach die Pandemie auf die Häufigkeit der Polizeikontrollen ausgewirkt?
Wrangelkiez United: Massiv. Wir machen immer viele kleine Anfragen. Die Polizeidienststunden haben sich nachweislich innerhalb weniger Monate verdreifacht, das war am Anfang der Pandemie. Platzverweise gab es auch viel stärker. Dazu wurden regelmäßig 12-monatige Aufenthaltsverbote ausgesprochen. Das ist ein starker Eingriff in Freiheitsrechte, jemanden 12 Monate aus dem Kiez zu verbannen. Auch die Kontrollen sind viel mehr geworden. Jedes Mal, wenn wir aus dem Haus gegangen sind, haben wir eine Kontrolle gesehen. Wir fragen uns, warum stört es andere Leute nicht, immer wieder Polizeikontrollen zu sehen, bei der nur Schwarze Personen kontrolliert werden und die sehr erniedrigend ablaufen. Dann wissen wir auch, dass es gerade nachts im Park zu unglaublich gewalttätigen Übergriffen von Polizist*innen kam, bei denen auch mehrfach ein Krankenwagen kommen musste. Da wo niemand hingeschaut hat. Und ich habe das Gefühl, dass sobald wir intervenieren, sie ihre Strategie ändern. Es gibt jetzt viele Zivi-Cops, die sehr schnell zugreifen, Personen rausziehen und dann schnell wieder weg sind. So haben wir gar keine Chance mehr, zu interagieren. Da muss man sich natürlich dann auch fragen, ist das denn überhaupt sinnvoll, was wir hier machen? Für uns ist ganz wichtig: Führt unsere Arbeit denn wirklich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen?

KritJur: Wirken sich Polizeikontrollen eurer Meinung nach wie selbsterfüllende Prophezeiungen aus?
Wrangelkiez United: Absolut. Wir haben nach einem halben Jahr unsere erste kleine Anfrage gemacht, bei der wir Zahlen erfragt haben und sie dann mit vorherigen Zahlen verglichen haben, weil wir nachweisen wollten, dass diese Maßnahmen nichts bringen. Trotz steigender Polizeipräsenz sind die Zahlen nämlich relativ gleich geblieben. Irgendwann haben wir dann festgestellt, man kann nicht nachweisen, dass die Maßnahmen etwas bringen. Auch die Polizei kann das nicht nachweisen. Das haben wir dann in der nächsten Anfrage gefragt und das wurde uns dann auch indirekt bestätigt - und trotzdem werden die Maßnahmen fortgesetzt. Es ist auch erschreckend, wie sehr die Polizei mit einem Sicherheitsgefühl argumentiert. Um wessen Sicherheitsgefühl geht es eigentlich? Im vollen Park hat man dann die weißen Mittelschichtsfamilien, die vielleicht auch erst neu hierher gezogen sind. Die spielen dann in der Sonne mit ihren glücklichen Kindern und direkt nebendran wird gerade eine Schwarze Person komplett gefilzt. Da denk ich mir dann: Wieso stört euch das nicht? Wieso denkt ihr, dass das schon seine Berechtigung habe? Das ist ja immer das: Die Person wird schon was gemacht haben. Deswegen ist hier im Kiez sehr konzentriert, was gesamtgesellschaftlich abläuft. Vom Thema Abschiebungen bis zum problematischen Umgang mit Drogenuser*innen. Es treibt einen in den Wahnsinn, dass Leute immer nach mehr repressiven Maßnahmen rufen, obwohl man einfach weiß, dass es nichts bringt. Man sieht das historisch und in anderen Ländern, aber auch in der eigenen Stadt. Es geht nicht um tatsächliche Lösungen, sondern darum, bestimmte Bilder aufrecht zu erhalten, mit denen man Politik machen kann.

KritJur: Welche Menschen sind in erster Linie betroffen von Polizeikontrollen?
Wrangelkiez United: Also es sind nur Schwarze Personen oder People of Colour. Vor allem Geflüchtete sind betroffen. Wir wurden auch schon kontrolliert, aber nur wenn wir in Polizeikontrollen intervenieren, also wenn wir uns sozusagen solidarisieren. Also die kbOs bilden die rechtliche Grundlage für racial profiling. Das wird immer abgestritten, weil racial profiling ja verboten ist. Es dient eigentlich dazu, es den Polizist*innen im Einsatz zu erleichtern, racial profiling durchzuführen und sich keine Vorwürfe machen zu lassen.

KritJur: Wie geht man mit einer Situation um, in der man Zeug*in von Polizeigewalt wird? Wie schreitet man am Besten ein?

Wrangelkiez United: Das kommt natürlich total darauf an, wer ich bin: bin ich weiß oder nicht, bringe ich mich selbst in Gefahr oder nicht, was passiert konkret, wie extrem ist die Situation, gibt es noch andere Leute, die ich ansprechen kann? Und dann, wenn es nicht total extrem ist, immer erst einmal beobachten, um die Situation einschätzen zu können und um selbst zu schauen, was ich mir zutraue. Es bringt überhaupt nichts, den Held oder die Heldin spielen und die Situation danach aber eskaliert. Die betroffene Person ist im Zentrum und nicht ich. Deswegen: beobachten und sich solidarisieren. Versuchen, Blickkontakt mit der Person aufzunehmen und zu zeigen, dass man eben kein*e Gaffer*in ist, sondern aus Solidaritätsgründen da steht. Oft kommen sich die Personen sonst beobachtet vor. Wenn das über Augenkontakt nicht geht, dann sprechen. Die Person fragen, ob sie einen Beistand möchte oder Übersetzung benötigt. Die Übersetzungsfrage kann manchmal eine ganz gute Möglichkeit sein, Kontakt aufzunehmen. Oder einfach fragen: Kann ich irgendwie helfen? Brauchst du / brauchen Sie Unterstützung? Und wenn die Person einwilligt, dass man Beistand sein darf, darf die Polizei einen nicht wegschicken. Das hört sich jetzt so leicht an, das ist aber ganz schön schwierig in so einer Situation, wenn auch die Polizei einen dann einschüchtern will. Zum Thema Filmen: Es gibt ja eine große Diskussion darum, ob Filmen oder Ton aufnehmen oder nicht. Wir sind auf dem Stand: Filmen ja, aber eben mit Abstand, damit man den Ton nicht mitaufnimmt, denn das ist das Problem. Auch wichtig ist, danach zu bleiben und mit der Person zu sprechen, darüber, wie es ihr geht und ob sie irgendetwas braucht.

[Redaktionelle Anmerkung: Falls ihr mehr zum Umgang mit der Polizei lesen möchtet, dann können wir euch die Kampagne "go film the police" von der KOP (Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt) Berlin empfehlen.]

KritJur: Wie reagiert die Polizei, wenn ihr in einer Situation einschreitet?

Wrangelkiez United: Das kommt darauf an. Am Anfang habe ich mich immer total mit denen gestritten, mittlerweile bin ich sehr vorsichtig. Wir sind quasi jeden Tag in Situationen interveniert und so hat auch jede Person ihren eigenen Stil darin bekommen und wir haben gemerkt: Das Ziel ist wirklich, uns mit der Person zu solidarisieren und mit der Polizei eigentlich überhaupt nicht zu interagieren. Und die Souveränität ist total wichtig und dann hält sich die Polizei auch meistens– bei weißen Menschen wie mir - zurück. Das ist meine Erfahrung. Es ist immer wichtig, Solidarität zu zeigen, selbst wenn man nichts machen kann in einer Polizeikontrolle. Einfach vorbeigehen ist ganz furchtbar. Das versuchen wir auch den Leuten hier zu vermitteln. Ihr müsst nicht die Lösung parat haben, aber euch solidarisieren, das können alle.

KritJur: Was sind eure Forderungen an die Politik?

Wrangelkiez United: Soziale Lösungen für soziale Probleme. Also wirkliche Lösungen finden und nicht solche, die nur die weiße Merheitsgesellschaft befriedigen und zu einer Verdrängung in andere Viertel führen. Mehr Aufenthaltserlaubnisse und Arbeitserlaubnisse, das würde tatsächlich viele der Probleme lösen. Bei Arbeitserlaubnissen ist es schwierig, weil ich finde, Aufenthalt sollte sich nicht an Arbeit festmachen. Und dann auch Konsumräume schaffen für Drogenuser*innen. KbOs abschaffen.