Die Seehunde in der Nordsee sind am Verwaltungsstreitverfahren nicht beteiligungsfähig

Von Nils Rasche

Im März 2011 beschäftigte sich ein provinziales Gericht in Südecuador mit der Klage einer Gruppe von Landeigentümer*innen: die lokale Verwaltung hatte begonnen eine Straße auszubauen und zu vergrößern. Den dabei anfallenden Kies, Sand und Bäume entsorgte sie entlang des Ufers eines nahegelegenen Flusses, was zu einer Verschmälerung des Gewässers und somit zu einer mehr als Verdoppelung der Strömung führte. Dies wiederum hatte zur Folge, dass das Land um den Fluss herum von deutlich stärkerer Erosion und Überflutungen betroffen war – auch auf den Grundstücken der Klagenden.

 

 

Die Klagenden machten jedoch keine Verletzung oder Beeinträchtigung ihres Grundstückseigentums geltend – die Lage ihrer Grundstücke und ob sie tatsächlich von den Überschwemmungen betroffen waren, war also im Ergebnis irrelevant. Sie beriefen sich stattdessen auf die Rechte der Mutter Natur. Diese sind seit 2008 verfassungsrechtlich in den Artikeln 71-74 der Verfassung von Ecuador verankert: Pacha Mama – sehr vereinfacht gesagt, eine Art spirituelle Verkörperung der Natur – hat das Recht, in ihrer Entwicklung, ihren Lebenszyklen und Funktionen respektiert zu werden. Ihr steht es zu, bei Verletzungen wieder hergestellt zu werden und alle Menschen – insbesondere auch die indigenen Communities – sind berechtigt den Staat aufzufordern, diese Rechte auch tatsächlich durchzusetzen.

 

 

Eine bereits 2008 ein in Kraft getretene Verfassungsänderung schaffte zudem den Raum für eine neue Klageart: die sogenannte acción de protección verlangt nicht, dass man selbst verletzt ist um zu klagen. Sie lockert zudem die Voraussetzungen, um fremde Interessen vor Gericht zu vertreten. Daraus ergebe sich, so die Argumentation der Klagenden, die Möglichkeit, die Rechte der Natur vor Gericht schon alleine deswegen einzuklagen, weil die Natur verletzt wird – eine Auswirkung auf einen selbst oder auch irgendwelche andere Menschen ist nicht erforderlich.

 

 

Das Gericht schloss sich den Klagenden in diesem Fall, welcher unter dem Namen Wheeler c. Director de la Procuraduria General Del Estado de Loja entschieden wurde, an und wurde somit zum ersten Gericht überhaupt, welches eigenständige Rechte der Natur anerkannte und mit der Kraft des Gesetzes ausstattete. Auf sechs Seiten stellte das Gericht fest, dass Verletzungen der Natur, solche sind, welche ihrem Ausmaß nach ganze Generationen verletzen und, dass es dem Menschen als Teil der Natur verboten sei, andere Spezies zum Aussterben zu bringen oder sonstige Prozesse der Natur zu zerstören. Im Falle einer Klage aufgrund einer Verletzung dieser Rechte habe zudem die Partei, der eine Verletzung vorgeworfen wird, zu beweisen, dass keine solche Verletzung vorliegt – im Zweifel entscheidet das Gericht zugunsten der Natur.

 

 

Den Höhepunkt des Urteils bildet wohl die Erklärung des Gerichts, dass ein Konflikt zwischen den Rechten einzelner und den Rechten der Natur immer zugunsten der Natur ausgehen müsse – eine gesunde Natur betreffe alle und sei daher wichtiger und wiege schwerer als jedes individuelle Recht. 

Was heißt es eigentlich Rechte zu haben?

 

Bei der Beschäftigung mit der Frage wird oft auf den bereits erwähnten Artikel Should Trees have Standing? verwiesen, welcher 1972 im Southern California Law Review erschien. Stone stellt zunächst klar, was es eigentlich bedeutet, eigene Rechte zu haben und warum bereits geltende Umweltschutzvorschriften nicht ausreichen, um von Rechten der Natur zu sprechen.

 

Damit ein Recht wirklich ein Recht ist, muss es in irgendeiner Form prozessual geltend gemacht werden können. So viel leuchtet ja auch ein: wenn ich angeblich ein Recht auf körperliche Unversehrtheit habe, es aber keine Konsequenzen hat, wenn jemand meine körperliche Unversehrtheit verletzt und ich keine Stelle staatlicher Autorität habe, die mir im Falle einer Verletzung Rechtsschutz bietet, dann habe ich im Ergebnis kein Recht auf körperliche Unversehrtheit.

 

Des Weiteren muss das Recht im Falle einer Verletzung durch einen Ausgleich untermauert werden, der sich zudem an dem Schaden bemisst, der mir zugefügt wurde. Wenn mich etwa jemand verletzt, die Höhe des Schadensersatzes sich aber nicht danach berechnet, wie schwer die Verletzung ist, sondern nur danach, wie viel Umsatz meine Arbeitgeberin dadurch verliert, dass ich meinen Beruf nicht ausüben kann, dann geht es um meine körperliche Unversehrtheit nur insoweit als ihre Verletzung die Rechte meiner Arbeitgeberin beeinträchtigt.

 

Schließlich muss der Ersatz des Schadens auch dem verletzten Recht zukommen: eine Strafe wegen der Körperverletzung reicht insofern nicht aus – es muss auch einen Ausgleich geben, der dem mir tatsächlich entstandenen Schaden (sowohl seelisch als auch körperlich) zugutekommt.

 

 

 

 

Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen der Handhabung von Umweltschutz in unserer gegenwärtigen Rechtsordnung und dem Schutz einer mit originär eigenen Rechten ausgestatteten Umwelt. Klar kann eine staatliche Autorität es verbieten, ein Gewässer zu verschmutzen. Aber was passiert wirklich, wenn jemand dagegen verstößt? Das Gewässer kann dagegen offensichtlich nicht klagen (zu dem Einwand, „das Gewässer kann ja auch nicht reden“ später mehr); Privatpersonen nach gängigen Regeln wohl nur dann, wenn die Verschmutzung sie direkt betrifft, wie etwa einen Fischereibetrieb. Selbst Behörden, die etwa Bußgelder verhängen oder Anklage erheben könnten, setzen damit natürlich negative Anreize, den Fluss ja nie wieder zu verschmutzen, würden dadurch aber nicht dafür sorgen, dass es tatsächlich zu einem Ausgleich des entstandenen Schadens am Gewässer käme.

 

 

Wenn also die Verschmutzung eines Gewässers unterbunden wird, und deswegen auch Ansprüche auf Schadensersatz entstehen, dann passiert dies nicht, weil das Gewässer und das gesamte Ökosystem verletzt wurden und darin schon eine Verletzung von Rechten liegt, sondern weil das Ökosystem dadurch in seiner Nützlichkeit für die Menschen beeinträchtigt wurde.

 

Aber das Gewässer kann ja gar nicht reden! Wie soll es dann Rechte geltend machen?

Das ist natürlich richtig, aber die Idee, dass auch diejenigen, die nicht reden können und keinen eigenen Willen äußern können, Rechte haben können, die auch vor Gericht eingeklagt werden können, ist unserer Rechtsordnung keineswegs fremd. Ganz im Gegenteil sind moderne Rechtsordnung ganz eifrig dabei, unbelebten Dingen eine eigene Rechtspersönlichkeit zu geben, wenn sie es für nützlich erachten. Als es notwendig wurde, stattete man im amerikanischen Seefahrtrecht kurzerhand Schiffe mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit aus. Allerdings muss man nicht auf die andere Seite des Atlantiks gehen: Man schaue nur in das Grundgesetz, welches in Art. 19 Abs. 3 erklärt, dass auch die inländischen juristischen Personen dem Grunde nach Grundrechte haben (eine Entwicklung, die historisch übrigens auch keineswegs unumstritten war, dies aber nur am Rande). Aber wer hat denn schon mal eine Aktiengesellschaft reden gehört?

 

Da könnte man vielleicht noch einwenden, dass eine Aktiengesellschaft oder ein Verein ja aus Menschen bestehen, weswegen sich hier alles ganz anders verhält als mit der Natur. Spätestens dann, wenn man sich aber mal die Stiftungen anschaut, wird man feststellen, dass diese ja gar keine Mitglieder haben. Eine Stiftung ist schließlich, kurzgesagt, eine Vermögensmasse – Menschen sind nicht erforderlich (außer natürlich, um sich auszudenken, dass es etwas wie Stiftungen überhaupt gibt). Dennoch sind diese Stiftungen unumstritten juristische Personen und haben demnach eigene Grundrechte – ganz ohne Menschen. Hoppla.

 

Nur weil die Natur also keinen Willen nach unserem Verständnis hat oder nicht in Worte fassen kann, heißt das keineswegs, dass in unserer Rechtsordnung kein Platz für ihre eigenen Rechte ist

Rechte der Natur in der Gegenwart - ist die Idee wirklich so fernliegend?

 

Um aber nach dem zugegebenermaßen theoretischen Exkurs wieder einigermaßen zurück in die Gegenwart zu kommen: der Fall aus Ecuador ist dahingehend ein Durchbruch, dass ein Gericht ausdrücklich eigene Rechte der Natur anerkennt, war aber weder das erste noch das letzte Mal, dass sich ein Gericht mit dieser Frage beschäftigt hat.

 

Die Idee, dass nur Personen eigene Rechte haben können, zweifelte Prof. Fritz von Hippel wie folgt an: „Denn mit welchem Rechte hat man hier eigentlich dekretiert, daß nur der „homo sapiens“ um seiner selbst willen Achtung und Rechtsschutz verdienen könne?“ Der Vortag, in dem von Hippel, auch ausdrücklich Bezug auf die Massentierhaltung, großflächige Rodung der Wälder, „Mißhandlung“ des Bodens oder eine „grenzenlose Verschmutzung“ der Gewässer nimmt, sieht einen klaren kausalen Zusammenhang zwischen diesen „Unbilden und Maßlosigkeiten“ und der Tatsache, dass Menschen die Rechtssubjektivität komplett für sich alleine beanspruchen. Der Vortrag, welcher 1957 – und damit fast zwei Jahrzehnte bevor das Wort „Umweltschutz“ überhaupt Einzug in den Duden gefunden hatte – gehalten wurde, liest sich auch jetzt noch, als wäre er keinen Tag gealtert.

 

 

Die deutsche Rechtsprechung lehnt eine Rechtsubjektivität von Tieren und anderen Teilen der Natur bisweilen mit klaren Worten ab: 1988 beschäftigte sich das Verwaltungsgericht Hamburg mit einer Klage gegen eine Reihe von Genehmigungen des Bundesverkehrsministeriums, welche das Verbrennen von bestimmten Abfallstoffen auf hoher See erlaubten. Geklagt hatten neben mehreren Umweltschutzverbänden auch die „Seehunde der Nordsee“. Der erste Leitsatz des Urteils: „Die „Seehunde in der Nordsee“ sind im Verwaltungsstreitverfahren nicht beteiligungsfähig“ hat irgendwo eine gewisse Komik; die Rechtslage, auf die sich das Urteil des Verwaltungsgerichts stützt, besteht auch heute noch unverändert.

 

 

Neben Ecuador lohnt sich auch auch ein Blick in andere nichteuropäische Länder: William O. Douglas war von 1939 bis 1975 Richter am US Supreme Court. 1972 zog er in einem abweichenden Votum im Falle Sierra Club v. Morton aus der Tatsache, dass Unternehmen im Prozess als Personen behandelt werden, den Schluss, dass dies genauso für Täler, Wiesen, Bäume, Sümpfe oder sogar die Luft gelten solle. Alle Menschen, so Douglas, die eine Verbindung zum Fluss haben, seien legimitiert, ihre Stimme zu erheben, um für den Fluss zu sprechen, und auch vor Gericht, Schaden von ihm abzuwenden. Sei es als Zoolog*in, Bootfahrer*in oder nur als besuchende Person, die den Fluss für das, was er ist, genießt: Sie alle können für den Fluss sprechen. Das Votum von Douglas, ein lebenslanger Umweltschützer und Bürgerrechtler, gilt als eine der passioniertesten Schriften in der Geschichte des Supreme Courts.

 

 

Die Liste von Gerichtsentscheidung lässt sich relativ lange weiterführen: So stellte der Supreme Court von Indien bereits 2012 fest, dass wirkliche ökologische Gerechtigkeit nur dann zu erreichen sei, wenn man sich von dem menschenzentrierten Bild der Rechte trennt – der Beurteilungsmaßstab müsse „ökozentrisch“ sein. Der Supreme Court von Bangladesch erklärte 2019, dass sämtliche Flüsse des Landes vor dem Gesetz als lebende Wesen mit eigenen Rechten gelten. In Kolumbien urteilte das Verfassungsgericht 2016, dass Menschen nur ein Teil der seien und ihnen kein Recht zukomme, über das Schicksal der anderen Lebewesen zu entscheiden – die Natur sei das Subjekt ihrer eigenen Rechte.

 

 

ZUM SCHLUSS möchte ich noch auf den Fall zurückkommen, der mich auf die Idee gebracht hat, diesen Artikel überhaupt zu schreiben: es geht um Toledo, eine Stadt mit knapp 300.000 Einwohner*innen am Lake Erie in Ohio. Im Februar 2019 stimmte die Stadtbevölkerung mit einer Mehrheit von 61% zu 39% in einem Bürgerentscheid dafür, den Lake Erie Bill of Rights in ihre Stadtcharta aufzunehmen – eine Art Verfassung der Stadt. Der Lake Erie Bill of Rights legte fest, dass der Lake Erie sowie das gesamte dazugehörige Ökosystem das Recht „zu existieren, zu gedeihen und sich natürlich zu entwickeln“ habe. Und nicht nur das: sowohl die Stadt Toledo als auch jede*r Bürger*in der Stadt sind berechtigt, die Rechte des Sees im Namen des Sees vor dem Bezirksgericht einzuklagen, wenn der See etwa durch Verschmutzung in seinen Rechten verletzt wird. Die klagende Partei kann aber – so legt es der Gesetzestext glasklar fest – nur der See sein. Die Höhe des Schadensersatzes bemisst sich ausschließlich daran, wie viel Schaden an dem See angerichtet wurde und das ausgezahlte Geld darf nur benutzt werden, um den See und das dazugehörige Ökosystem wiederherzustellen.

 

Es überrascht nicht, dass sich der Lake Erie Bill of Rights sofort einer Reihe von Klagen ausgesetzt sah und nach nur wenigen Monaten von einem Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Das Gericht schildert auf über 22 Seiten unzählige Probleme, die es mit dem Lake Erie Bill of Rights hat – von der Bestimmtheit des Textes über Probleme mit der Gesetzgebungskompetenz bis zu sonstigen prozessualen Fragen – es wird kein gutes Haar an dem Lake Erie Bill of Rights gelassen. Aber zu einer Sache schweigt das Gericht bemerkenswerterweise: mit dem Grundsatz, dass ein See derartige Rechte als komplett eigene haben kann, damit hat das Gericht kein Problem.